Gebt den Bürgern ihre Stimme zurück

Jahrzehnte der ökonomischen Privatisierung haben auch die Politik privatisiert und die Bürger politisch enteignet. Doch es gibt einen Ausweg: Resonanz

Von Andreas Schiel und Tom Wohlfarth

Trump-Puppe
Resonanz oder Simulation? – Foto: re:publica/Flickr (CC BY-SA 2.0)

Die ökonomische Privatisierung, also die jahrzehntelange Enteignung öffentlichen Eigentums zum Gewinn von immer wenigeren, hat in den vergangenen Jahren zusehends auch zu einer Enteignung und Privatisierung der Politik geführt.

Das bedeutet zum Einen, dass das Primat der Ökonomie über die Politik zunächst
eine Art passive Privatisierung der Politik bewirkt hat, im Sinne einer Entpolitisierung:
Politische Entscheidungen werden nicht mehr im Parlament erstritten, sondern in Hinterzimmern technokratisch-alternativlos verwaltet. Als Folge daraus kommt es auch bei den Bürgern zu einem Rückzug aus der öffentlichen politischen Debatte, oder sogar aus jeglichem politischen Leben. Man verschwindet etwa in die Halböffentlichkeit des (analogen oder digitalen) Stammtischs oder gar in die völlige Privatsphäre des heimischen Wohnzimmers, als Synonym für einen Raum, in dem keinerlei politische Interaktion mehr stattfindet.

Zum Anderen aber zeigt sich – und das ist etwas, das wir seit den letzten Jahren
zunehmend erleben –, dass sich diese passive Privatisierung aktiviert und (re)politisiert
in einem Versuch der Wiederaneignung des Politischen. Dabei kommt es aber
gegenwärtig häufig zu einer Art Gegen-Privatisierung der Politik in dem Sinn, dass
das Öffentliche durch das Private „kolonisiert“ wird.

Mit dieser These kritisierte der Soziologe Zygmunt Bauman schon im Jahr 2000 die
genau umgekehrt lautende Beschreibung von Jürgen Habermas, nämlich einer Kolonisierung des Privaten durch das Öffentliche. Bauman schließt dagegen eher an
Richard Sennetts These eines Verfalls des öffentlichen Lebens und der politischen
Öffentlichkeit an. Sennett diagnostizierte hier bereits in den 1970er Jahren in der Moderne zunehmende „Tyranneien der Intimität“, beispielhaft etwa im Wandel der
Medien und der Unterhaltungsindustrie, und befürchtete schon damals eine ethnozentrische Entzivilisierung. Das exemplarische Phänomen für eine erneute Aktualität dieser These ist heute Donald Trump, aber auch der sogenannte Rechtspopulismus generell.

Regieren per Twitter

Trump kommt aus der Wirtschaft und der Welt des Reality TV. Er regiert per Twitter,
Dekret und diplomatischer Skandale weniger als repräsentativer Politiker, sondern
eher als (wahlweise wütende, traurige oder sich gerne auch mal großartig fühlende)
Privatperson. Sein Nepotismus, die Herrschaft seines Familienclans, wurde
von Anfang an unverhohlen betrieben. Seine Politik eines extremen Nationalismus
schließlich verbirgt unter der Maske der Gemeinschaftlichkeit eines neuen Wir-Gefühls,
dass dieses Wir-Gefühl letztlich nur über die Abgrenzung von anderen (Staaten,
Völkern, Minoritäten etc.) funktioniert. Es ist somit letztlich doch wieder kaum etwas
anderes als die mehr oder weniger gut kaschierte Entsprechung zum neoliberalen
Individualismus des privaten Vorteils, gegen den seine Wähler sich doch dem Anschein
nach wenden wollten – oder zumindest aller kausalen Vernunft nach wenden
müssten.

Der Widerstand entkommt hier nicht der privativen Logik, die seine
Lebenswelt bestimmt. So wird freilich auch etwa Trumps groß angekündigtes
Infrastruktur-Investitionsprogramm kaum das öffentliche Eigentum vor privatem Investoren- oder auch Familieninteresse stärken. Der weltweite neue Nationalismus
erweist sich somit vor allem als politisches Pendant zur ökonomischen Dynamik
von Individualismus und Privatisierung. Das eine geht aus dem anderen hervor. Die politischen Debatten dieses neuen Nationalismus oder Rechtspopulismus werden
entsprechend nicht im Sinne einer „räsonierenden Öffentlichkeit“ geführt, sondern
dienen häufig dem Ausdruck – zumeist negativer – persönlicher Gefühle und
Befindlichkeiten. Das ist sicher etwas, das die meisten aus sozialen Medien und
Kommentarspalten kennen.

Nun sind im Allgemeinen ein Ausdruck von politischen Gefühlen und eine generelle
Repolitisierung der Gesellschaft erst einmal zu begrüßen. Doch ihre destruktive
Verbindung im Sinne einer Privatisierung der Politik macht deutlich, dass dem gegenwärtigen politischen Leben etwas fehlt. Nämlich – für einen erheblichen Teil der
Bevölkerung selbst demokratisch organisierter Staaten – die Möglichkeit, sich Politik
konkret und konstruktiv (wieder) anzueignen, an politischen Themen und Debatten
teilzuhaben und sie mitzugestalten.

Nicht nur eine Stimme abgeben, sondern eine haben

Wie aber kann diese Möglichkeit zurückgewonnen werden? Wie können sich Bürgerinnen und Bürger in politische Debatten einmischen und politische Themen aneignen, ohne in der gerade beschriebenen Weise mit Hilfe fragwürdiger Politiker oder Parteien zu einer Art Gegenprivatisierung anzusetzen?

Vertiefen wir zur Beantwortung dieser Frage die Problematik noch einmal: Es gibt viele Anzeichen dafür, dass gerade unter denjenigen, die sich für eine sogenannte populisitische Partei oder einen solchen Kandidaten entscheiden, das Gefühl vorherrscht, von der Politik gänzlich ausgeschlossen zu sein. Nicht alle, aber viele bezeichnen sich selbst als Abgehängte oder Vergessene. Also als Menschen, die am alltäglichen Leben und erst recht am gesellschaftlichen Fortschritt nicht mehr
teilnehmen und auf der Agenda der Politik gar nicht mehr vorkommen.

In den USA verkündete Trump nach seiner Wahl, die vergessenen Amerikaner würden nun nicht länger vergessen werden. Und in seiner Rede auf dem Nominierungsparteitag der republikanischen Partei wiederholte er mehrmals emphatisch den Satz: „I am your voice!“ Dieser Satz ist zentral, um zu verstehen, was viele nach eigenem Empfinden abgehängte, vergessene und ignorierte Bürger sich wünschen und bis dato vermissen: Von der Politik gehört zu werden. Sie wollen nicht nur alle vier Jahre eine Stimme
abgeben, sondern dauerhaft eine Stimme haben. Eine Stimme, die wahrgenommen und gehört wird, eine Stimme die auf Resonanz trifft.

Mit dem Begriff Resonanz beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa das Bedürfnis des modernen Menschen, in eine Art grundlegendes Frage-Antwort-Verhältnis, in eine Beziehung zur Welt zu gelangen, die mir das Gefühl gibt, in einem lebendigen Austausch mit ihr zu stehen. Und in individualisierten, entwickelten Gesellschaften mit demokratischen Systemen wird dieses Bedürfnis direkt auf die Demokratie übertragen, sagt Rosa: „Das große Versprechen der Demokratie […] besteht in nichts anderem als darin, dass die Strukturen und Institutionen des öffentlichen Lebens in dem und durch das Medium der demokratischen Politik anverwandelt und ihre Repräsentanten, die Herrschenden, in ein Antwortverhältnis zu den Subjekten gebracht werden können.“

Donald Trump greift dieses Versprechen der Demokratie und die daraus entstehende Sehnsucht wirkungsvoll auf, wenn er verspricht: „I am your voice.“ Hartmut Rosa würde allerdings sagen, bei diesem Vorgehen Trumps handle es sich lediglich um Resonanzsimulation. Trump verspricht seinen Wählern zwar emphatisch, ihre Stimme wahrzunehmen und zu Gehör zu bringen, verhält sich aber weitgehend entgegengesetzt. Denn die Umsetzung seines Versprechens sieht er offenbar darin, dass er sich als Repräsentant seiner Wahler möglichst laut und hörbar in Szene setzt und sich immer wieder auf sie beruft. Geht es allerdings darum, tatsächlich ein Ohr für sie zu haben, oder ihren Interessen eine tatsächlich wirkungsvolle Stimme zu verleihen, sieht es schon deutlich dürftiger aus. Kürzlich erfuhr man z.B., dass Trump, der als Präsident den Witwen gefallener Soldaten kondolieren muss, sich für deren Situation und Nöte mäßig bis gar nicht zu interessieren scheint. Und statt Infrastrukturinvestitionen im Rust Belt plant er Steuersenkungen für Reiche.

Resonante Rekommunalisierung

Soweit, so bekannt. Was aber könnte nun ein Ausweg aus dieser Problematik sein? Wie können sich die Bürger einer Demokratie, die durch einen schrittweisen Prozess der Entpolitisierung und der Entfremdung von ihren politischen Repräsentanten geradezu verdammt scheinen, sich ins Private zurückzuziehen, aus dieser Situation herausfinden, und sich Politik wieder aneignen?

Ein Lösungsweg liegt auf der Hand: Wir müssen der Privatisierung von Politik in ihren unterschiedlichen Formen eine Kommunalisierung entgegensetzen. Und zwar durchaus in zweifacher Hinsicht. Einerseits, wo das Sinn ergibt, tatsächlich durch die faktische, materielle Wieder-Inbesitznahme privatisierten, früheren Gemeinguts durch die Bürger von Städten und Gemeinden. Andererseits aber auch auf einer übertragenen Ebene. Indem sich Menschen in Beteiligungs, in Rekommunalisierungs- und Lokalisierungsprozessen auch im übertragenen Sinne, im Sinne von Resonanzbeziehungen die gemeinsame(n) Sache(n) aneigenen: Indem sie Urteils- und Entscheidungskompetenz insbesondere für den Bereich lokaler, aber auch regionaler, nationaler, internationaler Politik gewinnen. Indem die kommunikativen ‚Drähte‘ zwischen politischen Repräsentanten und der Bevölkerung verfielfältigt werden (etwa durch regelmäßige, punktuelle Abstimmungen über Apps, durch Vereinfachung von Online-Petitionen). Und so vor Ort das Erleben von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, von Austausch, von einem lebendigen Frage-Antwort-Verhältnis zwischen den Subjekten und dem Nexus der Politik ermöglicht wird.

Unsere Antwort auf das Problem von Privatisierung und Entpolitisierung und die daraus folgende Gegenprivatisierung der Politik durch Populisten lautet also: Eine resonante Rekommunalisierung. Einfacher formuliert könnte man auch sagen: Eine lokal zugängliche, für jeden spürbare Demokratie, die Menschen als Handlungsraum erleben, in dem sie gefragt sind und in dem sie Antwort erhalten.

Leicht veränderte Fassung eines Inputs, den wir im November 2017 beim NRW-Dialogforum in Düsseldorf gegeben haben.

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