Ein Bild der Demokratie der Zukunft

Wie wäre es, wenn wir die Angst vor einer Zukunft, die wir fürchten, überwinden durch Bilder von einer Zukunft, die wir wollen? Ein Versuch

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Ob in Konflikt oder Konsens, in der Demokratie der Zukunft werden wir alle auf einer gemeinsamen Ebene unterwegs sein – Bild: Earth Day Shabbat/rac.org

Dieser Artikel ist die späte Antwort auf einen Text, den Andreas Schiel vor nun schon einigen Jahren hier bei demokratiEvolution verfasst hat. Er forderte dort mit dem  anthroposophischen Bankier Wilhelm Ernst Barkhoff dazu auf, „’die Angst vor einer Zukunft, die wir fürchten‘, zumindest für einen Tag zu ‚überwinden durch Bilder von einer Zukunft, die wir wollen.’“ – Ich bin gespannt, ob das Folgende diesem Anspruch gerecht wird.

Imagine…

Die Demokratie der Zukunft, auf die wir gemeinsam zusteuern, wird entspannter sein. Entspannt, weil wir wissen werden, dass wir nicht kämpfen müssen. Nicht darum, gehört zu werden. Nicht gegeneinander, um uns durchzusetzen. Wir werden uns das nicht einreden müssen: Diese Entspanntheit, dieses Wohlwollen, das wir einfach immer und überall voraussetzen können. Wir werden uns vielmehr daran erinnern. Weil wir es wieder und wieder erfahren haben. Weil es ein Teil von uns geworden ist. Weil wir die Entspannung in jedem Muskel, in jedem Gedanken und in jedem Moment fühlen können.

Wir werden es als Selbstverständlichkeit empfinden: Wenn uns etwas stört, werden wir damit nicht allein gelassen. Wir werden auch sicher wissen: Es gibt eine Adresse in der Gesellschaft, wo das, was uns wichtig ist, verhandelt wird, wenn es uns wichtig ist oder wichtig wird. Wir werden also merken: Nein, es ist der Gesellschaft nicht egal, wie es uns geht. Es ist ihr wichtig. Wir sind ihr wichtig. Wir sind wertvoll.

Das ist etwas, das wir uns gemeinsam verschaffen werden. Wechselseitig. Weil wir alle in unserem Dasein als Bürger auf einer, gemeinsamen Ebene unterwegs sein werden. Der Stress, den all das „Oben-und-Unten“ all die Jahre, all die Jahrhunderte verursacht und in unseren Zellen abgelagert hat, wird verschwunden sein. Weil es für uns nicht mehr darum gehen wird, nach oben zu kommen. Weil es in der Politik kein „Oben“ mehr geben wird. Sondern ein Wir.

Dieses Wir aber wird ein anderes Wir sein als all die Wirs, die wir in der bisherigen Geschichte der Menschheit kennen lernen durften und kennen lernen mussten: ein Wir, in dem wir nicht untergehen. In dem wir nicht zu einem unwichtigen Teil in einem Haufen oder einem Klumpen von Menschen werden. Sondern ein Wir, das genau daraus besteht, dass alle wichtig sind und alle eine hörbare Stimme haben. Eine individuelle Stimme, die geschätzt wird, eben weil sie eine besondere, eine andere Stimme ist. Wir werden gesehen werden als jemand, der etwas weiß, was kein anderer wissen kann. Der besondere Erfahrungen gemacht hat, die einfließen müssen in alles, was wir gemeinsam entscheiden in unserer Demokratie.

Darum wird man auch unseren Beitrag schätzen. Wir werden einander so sehen, dass jeder von uns einen Beitrag leisten kann (und auch muss), weil er der ist, der er ist. Weil seine Individualität unverzichtbar ist für das große Ganze, das die Gesellschaft sein wird; für die durch alltägliche Demokratie geformte Gesellschaft.

Wir werden dafür einen Ort haben, an dem wir uns regelmäßig begegnen. Wir alle. – Oder genauer: Wir werden dafür Orte haben, auf allen möglichen politischen Ebenen und zu allen nur denkbaren politischen Fragen, die zwischen uns aufkommen. Wir werden mit anderen Worten „Foren“ haben. Nicht jene Internetforen, die wir derzeit haben. Sondern echte Foren aus Herz, Hirn, Lachen, Tränen, Worten und Blicken, aus Zuhören und Sprechen, aus Gehört-worden-sein und Aussprechen-lassen. Und dort werden all jene unsere Mitmenschen, Mitbürger sein, denen wir sonst nicht begegnen. Weil sie uns in unserem Alltag zu fern sind, obwohl doch auch sie Teil dieser einen, gleichen, unseren Gesellschaft sind.

Wir werden uns also freuen, dass es diese Orte gibt in unserer Demokratie der Zukunft. Wo wir uns wechselseitig damit überraschen, wie wir wirklich sind. Im Unterschied dazu, wie wir uns gedacht haben, dass wir sind oder welche Bilder uns unsere Medien davon vermitteln, wie wir sind. Wir werden Teil sein eines ständigen Sich-neu-Kennenlernens der Gesellschaft. Und ob wir jene Orte der Begegnung als Bürger, jene Orte der Kultivierung einer recht handfesten, greifbaren Bürgerfreundschaft dann „Parlamente“ nennen oder „Bürgerräte“ oder „Zukunftsräte“ oder „Bürgergutachten“ oder „House of Citizens“ oder sonstwie, wird uns schlicht und einfach egal sein. Weil entscheidend ist, was dort passiert: Dass wir dort erleben, dass Politik Spaß machen kann, dass wir dort Verbundenheit erleben, dass wir dort willkommen sind und dass wir dort gemeinsam konstruktiv angehen, was eben gerade gemeinsam konstruktiv angegangen sein muss.

Denn was auch klar ist: Die Demokratie der Zukunft wird kein reiner Kuschelverein sein. Sie wird weitaus eher als unsere heutige Gesellschaft eine Gesellschaft sein, die sich nicht scheut, heikle politische Themen wirklich anzupacken und Entscheidungen zuzuführen. Denn wir werden rückblickend überaus klar sehen können: Unsere heutigen Politikstaus und ängstliche Vermeidung bestimmter politischer Themen waren ein Resultat jener fehlenden Verbundenheit zwischen uns, die wir nun gelernt haben, gezielt zu pflegen und zu erhalten. „Damals“, werden wir sagen, „hatten wir Angst, miteinander über das zu sprechen, was uns wirklich bewegt und im Alltag auf der Seele liegt, was uns ängstigt, was uns bedrückt, was uns stört, was uns wütend macht. – Denn wir hatten das Gefühl, wir müssten uns vor allem vor uns selbst fürchten: davor, was wir selbst tun würden, wenn wir es ansprechen und wir merken dann, es ist allen egal. Wir hatten Angst davor, dass wir explodieren würden, wild um uns schlagen. Oder resignieren, völlig depressiv werden. Weil wir es versucht haben, aber alles was wir bekamen, war die Gleichgültigkeit unserer Mitbürger.“

Die Demokratie der Zukunft wird also eine Gesellschaft voller Konflikte sein. Allerdings Konflikte, die produktiv werden, Konflikte, die willkommen geheißen werden. Weil wir die Erfahrung gemacht haben werden, wieder und wieder, „dass wir das gemeinsam lösen können“. Wir werden also zuversichtlich sein, wenn wir auf Konflikte stoßen, nicht ängstlich und verzweifelt und verbissen und kämpfend von Anfang an. Wir werden lachend in unsere Konflikte gehen, offen für den anderen, aber genauso solidarisch mit uns selbst, und wir werden das, was uns gerade wichtig ist, gut hörbar vertreten.

All das, was wir dort, in unseren vielen Foren, in der Politik erleben, wird sich auswirken auch auf unser Privatleben. Viele Ersatzhandlungen werden wegfallen. Und, das fällt uns wahrscheinlich schwer, es uns vorzustellen: Diese Gesellschaft, die Demokratie der Zukunft, wird noch weitaus liberaler sein als bereits unsere heutige Gesellschaft. Weil sie gehalten ist. Weil sie verbundener ist. Weil sie Unterschiede und Dissens deutlich besser aushalten kann. Weil sie aus täglich kultiviertem Erleben weiß, was „Freiheit in Verbundenheit“ wirklich bedeutet.

Wir stehen heute nicht am Ende der Demokratie. Wir stehen in der modernen Gesellschaft noch ganz an ihrem Anfang. Wir können als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens noch viel miteinander anfangen. Und einiges davon dürfte für uns Heutige ganz unvorstellbar sein.

Dieser Text erschien zuerst auf Ardalans Blog wyriwif.

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