Wählen wir den Tod oder das Leben?

Der aktuelle Bundestagswahlkampf könnte den Eindruck vermitteln, es ginge um (fast) nichts. Das Gegenteil ist der Fall, denn es ging selten um mehr: Können wir unser Zivilisationsmodell vor dem Kollaps bewahren? Gedanken zu einem außergewöhnlichen Wahljahr.

Deutschland im Spätsommer 2021: In Deutschland und Berlin stehen Wahlen zur Neubesetzung des Bundestags bzw. des Abgeordnetenhauses (also des Landesparlamentes der Hauptstadt) an. Der Spitzenkandidat der CDU im Bund steht im Ruf, wiederholt mit Falschbehauptungen zu argumentieren und lässt ein Gespür für den tieferen Ernst von Politik vermissen. Der SPD-Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin scheint es ebenfalls an Feingefühl zu mangeln: Sie hat nachweislich Teile ihrer Doktorarbeit plagiiert, hielt es lange nicht für nötig, deshalb als Bundesministerin zurückzutreten und tat es erst, als sich der Wechsel an die Spitze der Hauptstadt-SPD anbot. In der Bundestagsfraktion der augenblicklich noch regierenden CDU und CSU treten einige Abgeordnete wegen ersichtlicher Korruption nicht mehr zur Wahl an. Ein Verkehrsminister, der Entschädigungssummen in dreistelliger Millionensumme offenbar ohne Not für eine nie umgesetzte PKW-Maut auf Autobahnen vorab an Vertragsunternehmen zugesagt hat, bleibt dagegen unverdrossen im Amt.

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Eine andere Politik

Die Corona-Pandemie offenbart vielleicht das größte Politikversagen der Nachkriegsgeschichte. Reicht uns wirklich im Herbst eine neue Regierung? Oder brauchen wir eine ganz andere Politik?

Ein Spruch aus einer fernen Welt

Ja, inzwischen ist es wohl offiziell zum Common Sense geworden: Die Corona-Pandemie hat unser Land – gemeinsam mit dem Rest der Welt – nicht nur in die größte Krise seit dem zweiten Weltkrieg gestürzt. Sie offenbart längst auch das größte Politikversagen der Nachkriegsgeschichte. Mit dieser Diagnose freilich rennt man inzwischen so sehr offene Türen ein, dass es vielen auch schon wieder reicht mit den epochalen Klagetiraden. Vielleicht ist genau das aber auch der Punkt, an dem es eigentlich erst richtig losgehen muss mit der Kritik an einer Politik, die ihr Handeln von Anfang an unter den Anspruch stellte, jedes einzelne Menschenleben hochhalten zu wollen – und am Ende gerade diesen Anspruch kolossal zu verfehlen scheint.

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„Die Trägheit ist zu groß in unserer Gesellschaft“

Was erwartet uns im kommenden Jahrzehnt? Ist Corona schon der Höhepunkt oder erst der Anfang? Und werden wir am Ende der Dekade endlich progressive Politik in Deutschland haben? Ein Gespräch mit den Podcastern Stefan Schulz und Wolfgang M. Schmitt über „Die Neuen Zwanziger“

Ist es eigentlich megalomanisch, einen Zehnjahrespodcast zu machen, der zugleich ein Jahrhundertpodcast sein soll? Und ist der Podcast das neue Buch oder die bessere Zeitung? Tom Wohlfarth spricht mit Stefan Schulz und Wolfgang M. Schmitt über das erste Jahr des neuen Jahrzehnts, über unsere alternde Gesellschaft und über neue Medien.

Wolfgang M. Schmitt betreibt „Die Filmanalyse“ und „Die Politikanalyse“ bei Youtube sowie den Podcast „Wohlstand für alle“ (mit Ole Nymoen). Er war Redakteur der „Rhein-Zeitung“. Im März erscheint bei Suhrkamp sein Buch „Influencer“ (mit Ole Nymoen).

Stefan Schulz produziert den Fernsehpodcast „Alias“ und betrieb den Video-Podcast „Aufwachen“ (mit Tilo Jung). Er war Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. 2016 erschien bei Hanser sein Buch „Redaktionsschluss“, dieses Jahr erscheint sein Buch „Rentnerrepublik“.

Ihren gemeinsamen Podcast „Die Neuen Zwanziger“ gibt es unter https://neuezwanziger.de und auf den gängigen Plattformen.

Dieses Gespräch erschien in gekürzter Fassung in der Tageszeitung „Neues Deutschland“.

Demokratie oder Expertenherrschaft?

Auch ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie ist die Frage unvermindert relevant, wie genau eigentlich politische Entscheidungen getroffen werden

Von Damian Paderta

Wer ist in der Lage, die gesellschaftlichen und individuellen Risiken der Covid-19-Pandemie zu vermitteln? Seit Beginn der Coronakrise stehen dafür namhafte Virologen und Epidemiologen im Licht der Öffentlichkeit. Doch nicht nur sie. Auch andere Akteure, die ihr politisches Kapital dem geschickten Einsatz von Sozialen Medien verdanken, katapultierten sich in den Diskurs um die Deutungshoheit der Pandemie. 

Die Corona-Krise erforderte massive Einschnitte in Bürgerrechten – einige sahen dadurch die Demokratie in Gefahr, andere trauten Expert*innen weitreichende, sogar staatslenkende Macht zu. Plausibel scheint, dass wir uns in Zeiten großer Ungewissheit nach einfachen und mit unserem Weltbild kompatiblen Antworten sehnen. Eine große Chance für drei Kategorien von Führungspersönlichkeiten.

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Eine neue Sprache finden

Ben Lerner sucht in seinem Roman „Die Topeka Schule“ nach den Ursprüngen unserer entgleisten Gegenwart – und nach einer Sprache der Heilung

Wie konnte es nur so weit kommen? Ein altes Schulhaus mit Trump-Plakat – Bild: Dan Gaken/Flickr

Jetzt, wo es vorbei ist (allerhöchstwahrscheinlich zumindest), kann man diese Frage nun mit etwas mehr Hoffnung stellen: Was ist angesichts von Donald Trumps so vollmundigem wie fatalem Versprechen, „America great again“ zu machen, eigentlich aus der Great American Novel, diesem anderen Mythos eines großen Amerika, geworden? Was haben die „großen“ amerikanischen Romanciers in den vergangenen vier Jahren aus den überdeutlichen Anzeichen dafür gemacht, dass das bisherige Amerika der Great American Novel womöglich unwiederbringlich untergegangen ist?

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Der Olaf-Müller-Moment

Für die politische Generation X wurde die Fortschrittshoffnung von 1989 zur Illusion, die erst mit Trump endgültig zerplatzte. Die Generation Y aber musste erst einmal politisch werden

Was hat Donald Trump eigentlich mit 1989 zu tun, außer dem historischen Datum 8./9. November? Unser mit|denker Tom Wohlfarth ist dieser Frage in einem sehr persönlichen Essay nachgegangen, der von Alaska über Italien in einen Berliner Hörsaal führt. Neu erschienen in unserer Publikationsreihe

Die Chance zur Verwandlung der Demokratie

Warum man sich über das Wort „Wahlkampf“ wundern sollte und weshalb wir den Münchner Bürgerrat unterstützen

Gegeneinander oder miteinander? Eine wichtige Frage der Demokratie – Bild: Bürgerrat Demokratie (CC BY-SA 2.0)

Mit manchen Wörtern wachsen wir auf, ohne jemals ihre Bedeutung oder Berechtigung zu hinterfragen. Woran zum Beispiel denken Sie, wenn Sie das Wort Wahlkampf hören? Nach über siebzig Jahren repräsentativer Demokratie gehört es ja zu unserem Alltagswortschatz genauso dazu wie etwa die Begriffe Parlament, Verfassung oder Ministerium.

„Bald ist wieder Wahlkampf.“ – „In den USA ist gerade Wahlkampf.“ – „Vor dem Wahlkampf läuft nicht mehr viel.“ Das sind Sätze, die wir ebenso bedenkenlos formen oder zur Kenntnis nehmen, wie wir bis vor einem halben Jahr ohne Mund-Nasen-Schutz in ein Kaufhaus marschiert sind. Bei Letzterem mussten wir mittlerweile umdenken, aus bekannten Gründen. Vielleicht gibt es allerdings auch gute Gründe, die leichtfertige Benutzung des Wortes Wahlkampf einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Nicht etwa, um es anschließend zu verbieten. Sondern um besser zu verstehen, in was für einer Demokratie wir augenblicklich eigentlich leben. Und in welcher Demokratie wir vielleicht lieber leben wollen. Dazu gleich mehr. Was aber hat es auf sich mit dem Begriff Wahlkampf?

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„Die Gefahr wurde unterschätzt“

Wie umgehen mit den Corona-Demos? Ein Gespräch mit dem Konfliktforscher Andreas Zick über Zivilcourage und ein neues Politikverständnis

Demonstranten und Gegendemonstranten in Berlin – Bild: Enno Lenze (CC BY-NC 2.0)

Herr Zick, wie gravierend sind unsere gesellschaftlichen Konflikte im Zusammenhang mit der Coronakrise im Augenblick?

Andreas Zick: Wir sind ja nicht konfliktfrei in diese Krise hineingekommen. Es gab bereits vor der Coronakrise einen stärkeren Zusammenhang zwischen antidemokratischen Orientierungen und Gewaltbilligung, der sich auch in der Krise auswirkt. Außerdem gab es zunehmende Spaltungen, die sich zum Beispiel in den menschenfeindlichen Ressentiments gegen Minderheiten, Amtsträger und andere Gruppen gezeigt haben.

Das hat zu neuen antidemokratischen Gemeinschaftsbildungen geführt – etwa zu einem Anstieg von rechtem Verschwörungsglauben –, die sich in Teilen radikalisiert haben, während umgekehrt bei anderen das Vertrauen in die Demokratie noch weiter gewachsen ist. Zu dieser politischen Polarisierung kommen aber auch ökonomische und soziale Verwerfungen, die im Auslauf von Krisen und Pandemien immer zunehmen und zu erhöhter Ungleichheit führen. Insofern stehen uns weitere Konflikte, auch die eigentlichen Wertekonflikte, erst noch bevor.

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Wir sind ein Gespräch

Mit-, durch- und gegeneinander schreiben: Armen Avanessian und Anke Hennig führen in ihren neuen Büchern einen nachdenklichen Trialog

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Mehrdimensionale Dialogform und Rollentausch: Anke Hennig (l.) und Armen Avanessian – Bild: Janine Kress

„Viel hat von Morgen an, seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, erfahren der Mensch“, heißt es in Friedrich Hölderlins Hymne „Friedensfeier“. Und sehr vieles ist bereits über diese unerhörte Formulierung geschrieben worden, dass der Mensch hier nicht nur ein Gespräch führt, in dem er von anderen dieses oder jenes erführe. Nein, wir Menschen sind ein Gespräch, in dem wir mit- und durcheinander letztlich wohl vor allem uns selbst erfahren – wer oder was auch immer das sei.

So ähnlich – oder vielleicht auch ganz anders – mögen die Berliner Literaturwissenschaftlerin Anke Hennig und der Philosoph Armen Avanessian gedacht haben, als sie es vor bald zehn Jahren unternahmen, in einem schreibenden Gespräch eine „spekulative Poetik“ zu entwickeln. Und tatsächlich scheint dieser Titel auch aus Hölderlins Zeit der Frühromantik stammen zu können, ging es doch damals nicht zuletzt darum, mit „Spekulation“ und „Poesie“ die von Immanuel Kant gerade gezogenen „Grenzen der bloßen Vernunft“ zu überwinden. „Wir sind ein Gespräch“ weiterlesen