„Es braucht beides: individuelle und gesellschaftliche Transformation“

Im Jahr 2048 erwachen zwei Menschen unserer Gegenwart aus einem künstlichen Schlaf und stellen fest: Nach dreißig Jahren hat sich vieles verändert – und zwar ganz überwiegend zum Besseren. In seinem Buch Utopia „2048“ hat Lino Zeddies diese positive Zukunftsvision als bewussten Gegenentwurf zu den vielen finsteren Dystopien unserer Zeit erdacht. Ein Gespräch über Hoffnung, Veränderung und den Charme des Sowohl-als-auch.

Utopia2048
So könnte sie aussehen, unsere schöne neue Utopia 2048 – Bild: Aerroscape (CC-BY-NC-SA)

Du hast in deinem Buch ein zusammenhängendes, umfassend positives Zukunftsbild unserer Gesellschaft im Jahr 2048 beschrieben. Welche Wirkung erhoffst du dir dadurch bei deinen Leser_innen?

Ich hoffe, das Buch weckt Inspiration, Hoffnung und Tatendrang, diese Möglichkeitswelt in die Realität umzusetzen! Es gibt so viel Hoffnungslosigkeit und Mangel an großen Visionen, aber die Lösungen für eine schönere Welt sind eigentlich alle schon da. Sie müssen „nur“ noch umgesetzt werden. Außerdem hoffe ich, dass „Utopia 2048“ das größere Bild vermitteln kann, wie die zahlreichen großen und kleinen Lösungen zusammenhängen und einer neuen Logik folgen. Einzeln erscheinen sie schwach und dem übermächtigen System hoffnungslos unterlegen, aber wenn man das größere Bild sieht und wie all die Lösungen zusammenpassen, dann ist das sehr bestärkend.

Im Buch geht es immer wieder auch um Demokratie. So gibt es in deiner Utopie zum Beispiel regelmäßig Entscheidungen durch geloste Bürgerräte und ein Ministerium für Demokratie, das auch für die Weiterentwicklung von Demokratie zuständig ist. Für eine Utopie nehmen sich die Veränderungen aber noch recht moderat aus, finde ich. Manche wünschen sich ja mittlerweile die Verwandlung unserer repräsentativen in eine Los-Demokratie ohne Berufspolitiker. Hast du auch darüber nachgedacht, das in dein Buch zu übernehmen?

Eine Los-Demokratie ist auf jeden Fall ein sehr interessanter Ansatz! Ich habe generell versucht, im Buch die Balance zu finden zwischen größtmöglicher Visionskraft einerseits und andererseits ausreichend Realismus, dass die Umsetzung innerhalb von 30 Jahren nicht zu abwegig erscheint. Die im Buch vorgestellten Reformen für die Demokratie mit gelosten Bürgerräten, Volksabstimmungen, Ministerium für Demokratie, Steuerreform und demokratischen Unternehmen sehe ich allerdings schon als riesiges System-Upgrade. Dennoch könnte ich mir in einigen Bereichen noch deutlich utopischere Lösungen vorstellen, aber das würde einige Leser vielleicht überfordern.

Du siehst offenbar die Veränderungen in den einzelnen Bereichen der Gesellschaft in einem engen Zusammenhang: Es scheint mir kein bloßes Nebeneinander von Entwicklungen etwa in der Politik, der Wirtschaft, der Arbeitswelt, der Ökologie, sondern eher ein Ineinandergreifen zu sein?

Ja genau! Letztlich hängt aus meiner Sicht alles in irgendeiner Weise miteinander zusammen. Wenn wir andere Unternehmen wollen und andere Formen der Arbeit, dann brauchen wir auch andere Schulen und ein anderes Steuersystem. Dafür wiederum brauchen wir andere Politik und dafür andere Machtverhältnisse, die wiederum ein anderes Geldsystem erfordern. Man kann nur schwer einen Teil in dem Systemgefüge ändern, ohne alles andere auch zu ändern. In den letzten Jahren bin ich daher immer mehr zu dem Schluss gekommen, dass die ganzen Wandelinitiativen, egal ob sie sich für Demokratiereform, alternative Schulen, Geldreform oder ökologische Landwirtschaft engagieren, nur an unterschiedlichen Facetten des gleichen Wandels bauen. Dieses größere Bild zu sehen kann in meiner Erfahrung große Strahlkraft entfalten, um die oft zersplitterten Wandelbewegungen zu verbinden und zu einer gemeinsamen Stärke zu finden.

Mir hat sehr gut gefallen, dass du im Buch weitgehend auf Schwarzweißbilder verzichtest: Deine beiden aus unserer Gegenwart stammenden Protagonist_innen Lena und Jannis müssen immer wieder feststellen, dass ihre teilweise ideologischen Ansichten zu kurz greifen und die Lösung meistens in einem Sowohl-als-auch liegt. Dahinter steht wahrscheinlich eine grundlegende Überzeugung von dir?

Ja, ich bin ein großer Fan des Sowohl-als-auch. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Lösung nicht in einem der Pole zu finden ist, wie links vs. rechts, Markt vs. Staat, Solidarität vs. Wettbewerb, Wachstum vs. Verzicht, Unternehmen vs. Umwelt, sondern dass die Lösung in der Integration beider Pole und Transzendenz des vermeintlichen Konflikts liegt. Regenerative Permakultur-Landwirtschaft schafft hohe Erträge und regeneriert den Boden, Demokratieinnovationen schaffen sowohl bessere Entscheidungen als auch mehr Bürgerbeteiligung, eine lebenswerte Postwachstumsökonomie schafft Nachhaltigkeit und Wohlstand.

Der erste Kontakt mit dieser Erkenntnis war durch die Beschäftigung mit dem Konsent-Entscheidungsverfahren, bei dem es genau darum geht, von den Entweder-Oder-Fronten wegzukommen und Synergielösungen zu suchen. Wenn die Offenheit da ist, anderen zuzuhören und neue Wege einzuschlagen, lässt sich in meiner Erfahrung immer ein dritter Weg finden, in dem sich die Sichtweisen ergänzen. Ein weiterer schöner Grundsatz in diesem Zusammenhang, der mir kürzlich begegnete, ist „Neugier statt Empörung“.

Wenn die Offenheit da ist, anderen zuzuhören und neue Wege einzuschlagen, lässt sich in meiner Erfahrung immer ein dritter Weg finden, in dem sich die Sichtweisen ergänzen.

Das hört sich wunderbar an. Allerdings erleben wir gerade, dass viele Konflikte in unserer Gesellschaft (oder jedenfalls in ihren medialen Öffentlichkeiten) eher unversöhnlich und ideologisch ausgetragen werden, mit einer gewissen Rechthaberei. Vielleicht ist Sowohl-als-auch die Zukunft, aber wie sollen wir damit umgehen, dass bisher noch viele Menschen und auch große gesellschaftliche Kräfte wie z.B. Parteien nur sehr bedingt an anderen Positionen und alternativen Lösungswegen interessiert sind?

Ich bin gegenwärtig immer besorgter über die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Durch die Corona-Krise hat diese Polarisierung einen ordentlich Boost erfahren. In meiner Erfahrung sind die ausgetragenen Konflikte jedoch häufig nur Stellvertreterkämpfe für das eigentliche, darunter liegende Thema, das meist einen emotionalen Ursprung hat. Doch auf der Ebene der Stellvertreterkämpfe lassen sich die Konflikte nicht lösen. Dort verkrampfen sich die Beteiligten nur immer weiter in verkopften Diskussionen, die nirgendwohin führen, alle Beteiligten frustriert zurück lassen und die Menschen voneinander entfremden.

Es wird in der Öffentlichkeit meist so getan, als ob wir Menschen rein rationale Wesen sind, die sich von der objektiv feststellbaren Wahrheit überzeugen lassen, wenn sie nur ausreichend stichhalte Argumente an die Hand bekommen. Das ist aber leider nicht so. Wir sind primär emotionale Wesen und von unseren Gefühlen, Intuitionen und Peergruppen gesteuert, und der Verstand ist häufig eher wie ein Rechtsanwalt für diese emotional getroffenen Entscheidungen und fungiert nicht etwa wie ein neutraler Wissenschaftler. Jonathan Haidt legt diesen Sachverhalt sehr überzeugend in seinem Buch „The righteous mind“ (dt. „der rechthaberische Verstand“) dar. Das müsste unbedingt anerkannt werden. Entsprechend bräuchte es in der Öffentlichkeit eine neue, tiefergehende Dialogkultur und neue Austauschformate, in denen die emotionale Komponente eingebettet ist und in denen auf die Ebene hinter den Stellvertreterkämpfen geschaut wird: Worum geht es wirklich? Dort liegen oft Emotionen, Enttäuschungen, Verletzungen. Ein solcher Prozess erfordert für alle Seiten allerdings eine gewisse persönliche Öffnung und das Zurücktreten vom Anspruch moralischer Überlegenheit.

Wenn ein solches vertrauensvolles Fundament gelegt ist, kann man sich wirklich zuhören, austauschen und von den unterschiedlichen Positionen lernen. Denn fast jede Perspektive hat etwas zur Wahrheit beizutragen. Aus dieser neuen Verbindung können die besten innovativen Lösungen hervorgehen.

Auch in deinem Buch machst du eine positive gesamtgesellschaftliche Entwicklung stark von einer psychischen bzw. emotionalen Weiterentwicklung nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der einzelnen Menschen abhängig. Die Überlegung kann ich nachvollziehen. Aber kommen wir überhaupt zur Veränderung größerer Strukturen, wenn der Fokus auf Selbstbeschäftigung liegt?

Mein Motto lautet wieder: sowohl-als-auch! Es braucht sowohl die Beschäftigung mit der eigenen psychischen oder emotionalen Heilung und Weiterentwicklung als auch den Einsatz für Veränderung der größeren Strukturen. In meinem eigenen Leben findet fast immerzu beides statt, wobei der Hauptfokus hin und her pendelt. Je mehr ich mein eigenes Potential entfalte, Ängste und Blockaden ablege, desto effektiver kann ich mich danach für den großen Wandel einsetzen. Ganz praktisch finde ich in diesem Zusammenhang die Begriffe spiritual bypassing und political bypassing, also spirituelle bzw. politische Umgehung. Das spiritual bypassing machen diejenigen, die meinen, wenn alle nur mehr meditieren und sich mit den eigenen Schatten beschäftigen, wird alles gut, ohne zu sehen, dass die Systemstrukturen kontinuierlich gebrochene Menschen hervorbringen und es ein Kampf gegen Windmühlen ist, alle Menschen individuell zu heilen. Und das political bypassing machen die Aktivisten, die sich in politischen Kämpfen aufreiben, ohne zu merken, dass ihre eigenen Schatten, Dogmen und Ängste ihr Wirken korrumpieren und sie viele ihrer Feinde selber erzeugen. Im schlimmsten Fall werden solche „Freiheitskämpfer“ selber zu Unterdrückern, sobald sie an die Macht kommen, das zeigt die Geschichte auf tragische Weise wieder und wieder.

Es braucht daher unbedingt beides: sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Transformation.

Das ist ein gutes Stichwort. Nach dem Lesen deines Buches stelle ich mir wieder einmal die Frage: Wo und wie fängt denn nachhaltig wirkungsvolle Veränderung an? In „Utopia 2048kommen nicht nur die mächtigen Lobbyisten, sondern auch ihr Gegenpart aus den zivilgesellschaftlich organisierten NGOs schlecht weg, weil sie in unserer Gegenwart alle miteinander den Status Quo zementierten. Aber auch die systemkritisch und aktivistisch orientierte Figur Lena muss ja in deinem Buch feststellen, dass ihr Engagement sich oft in Lippenbekenntnissen und internen Streitereien erschöpft hat. Wie sieht aus deiner Sicht sinn- und wirkungsvolle Arbeit für eine bessere Zukunft aus?

Wie eben ausgeführt braucht es meiner Meinung nach für wirkliche Veränderung eine ganzheitliche Beschäftigung mit dem großen Wandel. Außerdem sollte der Wandel Spaß machen! Wenn es sich wie ein verbissener Kampf anfühlt und man sich selbst ausbeutet, dann hängt man wahrscheinlich in der Logik des alten Systems und verhärtet im schlimmsten Fall nur dessen Strukturen. Wir müssen stattdessen versuchen, eine schönere Welt heute und jetzt aufzubauen. Viele kleine Inseln der Veränderung gibt es bereits zuhauf und diese gilt es zu stärken und zu pflegen. Dort kann man auch sehr gut Kraft und Inspiration tanken. Ansonsten braucht es viel Mut, gewohnte Muster in sich und im Außen zu hinterfragen und außerdem neue Wege abseits des Gewohnten und Normalen einzuschlagen. Jede Veränderung erfordert zudem eine Phase der Verunsicherung und des Nicht-Wissens, die es auszuhalten gilt.

Das ganze Müssen und Unterdrücken der eigenen Bedürfnisse halte ich für den falschen Weg. Wie soll man Frieden in die Welt bringen, wenn man einen solchen Krieg in sich trägt?

Wo wiederum das richtige, persönliche Tätigkeitsfeld liegt, das ist für jeden Mensch unterschiedlich. Jede und jeder hat andere Fähigkeiten und Neigungen. Daher sieht auch der effektivste Weg, sich für den großen Wandel einzusetzen, für jeden Menschen anders aus. Ich versuche selber immer konsequenter meiner Begeisterung als innerem Kompass für meine persönliche Berufung zu vertrauen und mache damit gute Erfahrungen. Das ganze Müssen und Unterdrücken der eigenen Bedürfnisse hingegen halte ich für den falschen Weg. Dies ist Ausdruck eigener innerer Konflikte und Schatten. Doch wie soll man Frieden in die Welt bringen, wenn man einen solchen Krieg in sich trägt?

In deinem inspirierenden Nachwort, das ich zum Lesen unbedingt empfehle, hast du noch einen anderen Gedanken untergebracht, der mich nachdenklich macht: Vielleicht fällt es uns deshalb so schwer positive Vorstellungen von der Zukunft zu entwickeln, weil sie so schmerzhaft sein können, schreibst du. Kannst du das näher erläutern?

Der Kulturhistoriker Charles Eisenstein hat dazu einmal gesagt: „Jede Erfahrung einer schöneren Welt macht die alte weniger erträglich.“ Das erlebe ich auch immer wieder. Jede Konfrontation mit inspirierenden Lösungen, Naturverbundenheit und authentischen Begegnungen macht die normale Welt voller Beton, Naturzerstörung, künstlich erzeugtem Mangel und Oberflächlichkeit absurder. Je häufiger ich mich beispielsweise in schönen, natürlichen Umgebungen aufhalte, desto empfindlicher werde ich gegenüber Lärm, Autos und Naturentzug. Insofern ist es kurzfristig zwar sehr schön, in utopische Welten einzutauchen, aber sobald man dann in die „normale Welt“ zurückkehrt, kann das sehr schmerzhaft sein. Es fällt dann auch schwerer, in „normalen“ Strukturen und Unternehmen weiter zu funktionieren. Sich darauf einzulassen, dass diese Welt unglaublich viel schöner und lebenswerter sein könnte, als sie es zurzeit ist, kann daher sehr herausfordernd sein. Es stellt die gesamte Gesellschaft und den eigenen Platz darin in Frage und verunsichert. Aber genau das braucht es wahrscheinlich: Menschen, die Gewohntes in Frage stellen und den Aufbruch in etwas Neues wagen.

Lieber Lino, danke für das Gespräch.

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Lino Zeddies, geboren 1990 in Hannover, betätigt sich als selbstständiger Aktivist für gesellschaftlichen Wandel. Nach einem VWL- Studium engagierte er sich im Netzwerk Plurale Ökonomik e.V., bei Monetative e.V. und im International Movement for Monetary Reform für eine Erneuerung des Wirtschafts-, Geld- und Finanzsystems. In weiteren Lebensstationen als Organistionsberater, Coach und Heilpraktiker für Psychotherapie setzte er sich intensiv mit progressiven Formen der Zusammenarbeit und innerem Wandel auseinander. Während der Beschäftigung mit den zahlreichen kleinen und großen Lösungen für eine schönere Welt entstand die Idee für das Buch „Utopia 2048“, das er im April 2020 veröffentlichte.

Das Buch | So hatten sich Lena und Jannis die Zukunft nicht vorgestellt: In Utopia 2048 erwachen zwei Menschen aus unserer Gegenwart aus einem künstlichen Komaschlaf und müssen sich immer wieder wundern. Denn im Jahr 2048 sind viele unserer heutigen Probleme gelöst, weil die Vorzüge heute konkurrierender Lösungsansätze pragmatisch und unideologisch kombiniert wurden. Plötzlich passen eine prosperierende Wirtschaft und fairer Handel ebenso zusammen wie effiziente Politik und umfassende Bürgerbeteiligung. Und den Menschen der Zukunft scheint es nicht nur materiell, sondern vor allem auch seelisch richtig gut zu gehen. Das Buch ist bei allen gängigen Buchhandlungen als Taschenbuch (11,99€) und ebook (7,49€) erhältlich. Mehr Infos unter www.utopia2048.de.

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