Metaphysik aus der Zukunft

Klimawandel, Digitalisierung, Drohnenkrieg: Unsere Gesellschaft leidet auf allen Ebenen an Sinnkrisen, die sie verlernt hat, als metaphysische zu begreifen. Ein Philosoph gibt Nachhilfe

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Die Frage nach Erhalt oder Nichterhalt des Ökosystems ist nicht nur ein technologisches, sondern auch ein metaphysisches Problem – Bild: Mysticsartdesign/Pixabay (CC0)

Vergangenen Herbst verfolgte die Nation mit großer Erregung die Ereignisse im Hambacher Wald. Man könnte die dortige Auseinandersetzung in etwa auf diese beiden sich gegenüberstehenden Positionen bringen: Der Eigentümer RWE, der mit Unterstützung der Landesregierung auf der polizeilichen Räumung und der Rodung des Waldstücks zur Erweiterung seines Braunkohletagebaus bestand, verwies dabei auf das schmale Zeitfenster, das man habe, um einen künftigen Engpass in der Energieversorgung zu verhindern. Der legitime Teil des Protests dagegen konnte an den zeitgleich stattfindenden politischen Prozess um den ja bereits beschlossenen Braunkohleausstieg anknüpfen, für den die Kohlekommision dann schließlich auch einen Kompromiss erarbeitet hat. Das hier jedoch nicht nur im Wortsinn tieferliegende Problem des Klimawandels ist aber doch eines die Zeitspanne nicht nur eines Menschenlebens, sondern womöglich der gesamten Menschheit übersteigendes.

Für den Philosophen Armen Avanessian wäre diese Verwirrung von Zeitlogiken und damit verbunden auch der Zuständigkeiten von Polizei und Politik kein Sonderfall. Denn seiner Ansicht nach ist ein solches Chaos Zeichen dafür, dass unsere Gesellschaft „auf allen Ebenen an Sinnkrisen und Überforderungen [leidet], die wir verlernt haben, als metaphysische zu begreifen“. Doch während es für eine klimafreundliche(re) Energiegewinnung technologische Lösungen gibt und in Zukunft immer bessere geben dürfte, ist der wissenschaftlich-technische Fortschritt allein kein Garant für die Lösung auch der mit ihm einhergehenden metaphysischen Probleme. Im Gegenteil, er erzeugt nur laufend neue. Ob die Menschheit nun in der Klimakatastrophe kollektiv untergeht oder ob sie transhumanistisch die individuelle Lebenszeit ins Unermessliche verlängert, in jedem Fall wird sie dadurch in immer nur größerem Ausmaß mit Fragen konfrontiert, die sich nicht empirisch beantworten lassen. Eine „Metaphysik für das 21. Jahrhundert“ sei hier vonnöten, und eine eben solche will Avanessian mit seinem Buch Metaphysik zur Zeit entwerfen.

Eine nachmetaphysische Metaphysik?

Unausgesprochen tritt er damit auch der These von Jürgen Habermas entgegen, wir hätten heute gerade umgekehrt „zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative“. Für Avanessian gilt dagegen: „Es gibt kein Denken außerhalb der Metaphysik, kein metaphysikfreies Denken.“ Denn wovon Habermas das nachmetaphysische abgrenzt, von antipluralistischem Ursprungs- und Identitätsdenken etwa, das würde Avanessian mit Kant eine lediglich dogmatische oder unkritische Metaphysik nennen. Oder auch einfach „schlechtes bzw. ungenaues philosophisches Denken, und zwar […] vor allem dort, wo metaphysische Kategorien implizit und unreflektiert bleiben. Ein Beispiel für letzteres sind viele Debatten über digitale Technologien, die schon in ihrer Begriffswahl verräterische metaphysische Vorentscheidungen treffen. ›Netzwerk‹ und mehr noch ›Cloud‹ sind solche trügerischen oder ideologischen Begriffe, die die materielle Basis aller Komputation verschleiern.“

Avanessian dagegen versucht sich gewissermaßen an einer „nachmetaphysischen“ Metaphysik. Und obwohl ja der Name „Metaphysik“ sich nicht begriffslogischen, sondern gewissermaßen editorischen Gründen verdankt (die erste so bezeichnete Schrift, Aristoteles‘ Metaphysik, stand in einer frühen Textsammlung einfach „hinter“ der Physik), geht Avanessian von einem grundlegenden Bezug zwischen Metaphysik und „Physik“, also Naturwissenschaft(en), aus. Allerdings nicht nur in dem oben genannten Sinn, dass der wissenschaftlich-technologische Fortschritt Fragen aufwirft, die dann nur die Philosophie zu beantworten versuchen kann. Vielmehr habe gerade auch die moderne Naturwissenschaft selbst „eine spekulative Dimension“. Atome, Mikroben oder Gene etwa wurden elementarer Bestandteil der wissenschaftlichen Theorie und Praxis, lange bevor sie jemals irgendjemand gesehen hat. Und doch ist es nicht zuletzt auch dieses spekulative Element, das unsere Gegenwart in tiefe Sinnkrisen gestürzt hat, in denen die stabil geglaubten Begriffe und Gesetze von Physik und Metaphysik ins Wanken geraten sind. Diesen Begriffsbeben und theorietektonischen Verschiebungen, die Entwicklungen wie die Digitalisierung, Finanzialisierung oder Militarisierung der Welt aufgeworfen haben, will Avanessian anhand einiger klassischer Begriffe der Metaphysik nachspüren.

Die Anomalie ist der Normalfall

Nicht ganz ohne Megalomanie versucht er den gegenwärtigen Weltzustand auf die 130 Seiten seines schmalen Buches zu bannen. Dem ist begrifflich nicht immer leicht zu folgen. Und doch ist Avanessians Panorama eindrücklich, als das Bild einer Welt, deren (metaphysische) Kategorien auf den Kopf gestellt sind. So etwa das klassische Verhältnis von Substanz und Akzidenz. Denn bei den unserer Risikogesellschaft drohenden technologischen Unfällen, accidents, stehe eben nicht mehr nur Akzidentielles, sprich Nebensächliches, auf dem Spiel, sondern die Substanz, das System als Ganzes. Das gilt für die Gefahr einer nuklearen Katastrophe ebenso wie für den Klimakollaps oder die systemstabilisierenden Störungen des Finanzapparats.

Hier ist überall die Anomalie zum Normalfall geworden, Avanessian spricht daher von Anormalien. Es sei nun aber gerade die falsche, weil illusorische Reaktion auf diese Anormalien und substantial accidents, anzunehmen, man könne diese Risiken durch mathematische Berechnung kontrollieren. Die Spanne einer solchen sich “in Allmachtsphantasien ergehenden Stochastik (…) reicht dabei von einseitig geführten Drohnenkriegen mit ihrem Versprechen, die Opferzahlen zu minimieren (…) bis hin zu risikominimierten, weil in ihren Vorauswahlen algorithmisch optimierten Paarbeziehungen.” Denn das metaphysische Potenzial des letztlich Unwägbaren seien schließlich gerade die Begegnung mit dem ganz Anderen und die Erfahrung absoluter Kontingenz.

Verpolizeilichung der Politik

Der Drohnenkrieg ist allerdings für eine ganze Reihe von Avanessians Argumenten zentral. Nicht nur bringt er in den klassischen metaphysischen Dualismus von Leben und Tod eine krasse Asymmetrie (der sichere Tod auf der einen Seite, quasi die Unmöglichkeit zu sterben auf der anderen), er dient auch zur Illustration des Kernkomplexes von Avanessians Metaphysik, dem, was er den Zeitkomplex nennt. Die alte Vorstellung einer linearen Zeit, die aus der Vergangenheit kommend durch die Gegenwart in Richtung Zukunft rollt, sei überholt. Heute komme die Zeit uns aus der Zukunft entgegen. Und das gilt eben nicht nur für Smart-Tech-Giganten wie Google oder Amazon, die zielstrebig daran arbeiten, uns heute schon anzubieten, was wir uns morgen wünschen würden. Sondern es zeigt sich auch in der sogenannten „präemptiven“ Kriegsführung. Auf den ersten Blick gar nicht so leicht von ‚präventiven‘ Maßnahmen zu unterscheiden, ist sie doch das genaue Gegenteil. Anstatt etwa durch kluges politisches Handeln das Entstehen kriegerischer Auseinandersetzungen tatsächlich zu verhindern (Prävention), wird im angeblichen Versuch, durch einen präemptiven Militärschlag einen Krieg zu vermeiden, dieser im Grunde erst erzeugt. Seitdem George W. Bush und Donald Rumsfeld im zweiten Irakkrieg den preemptive strike zur bevorzugten militärischen Strategie erklärten, sei der „war on terror […] die politische Krankheit, für deren Heilung er sich hält.“

Die präemptive Zeitlogik besteht nun in dem bislang nur aus Science-Fiction-Geschichten bekannten Szenario, dass vermeintliche Terroristen für Verbrechen bestraft, sprich liquidiert werden, die sie noch gar nicht begangen haben, von denen aber angenommen wird, dass sie sie künftig begehen werden. Die präemptive Kriegsführung ist somit nicht nur Ausdruck einer Zeitlogik, die aus der Zukunft kommt, sie bedeute auch eine besorgniserregende „Verpolizeilichung der Politik“.

Eine neue kopernikanische Wende?

Es geht hier, wie in den vielen weiteren Beispielen, die Avanessian analysiert – von der Nanotechnologie bis zum Finanzsystem – letztlich um extrem asymmetrisch vermachtete Verhältnisse, in denen einige wenige gesellschaftliche Akteure ein Zeitregime installieren, um die Zukunft in ihrem Sinn zu determinieren. Das wird ebenso deutlich an den präemptiven Werbemethoden von Amazon oder Google, bei denen oft nur ein kleiner Schritt zwischen Vorhersagen und Vorschreiben liegt. Diese Machtasymmetrien, in denen sich für Avanessian die polit-ökonomischen Verhältnisse unserer Zeit in ihren metaphysichen Problemen spiegelt, sind wohl letztlich jedoch nichts als illusorische Versuche, die eigentliche metaphysische (Macht-)Asymmetrie zu besiegen: nämlich dass unsere Zukunft, ja wir selbst uns letztlich unverfügbar sind.

Radikal zuende gedacht, ergibt sich daraus das, was man geradezu eine neue kopernikanische Wende der Metaphysik nennen könnte – auch wenn Avanessian selbst das nicht tut. Hatte einst Kant auf die astronomische Austreibung des Menschen aus dem Mittelpunkt der Welt philosophisch reagiert, indem er ihn zumindest wieder in die metaphysisch-epistomologische Mitte, ins rationale Zentrum (s)einer Welt stellte, dreht Avanessian den Spieß abermals um: Die Metaphysik des 21. Jahrhunderts führe angesichts der technologischen Entwicklung zwar nicht zu einem Post- oder Transhumanismus, aber doch zu einem „Inhumanismus“, einem Denken, das nicht mehr aus der Perspektive des Menschen betrieben wird. Denkt man den Menschen nämlich einmal trans- oder posthumanistisch aus der Zukunft, wie Avanessian vorschlägt, wird er immer schon ‚Nicht(-nur-)Mensch‘ gewesen sein. (Dasselbe funktioniert freilich auch aus der Vergangenheit.)

Es muss ein Ende haben mit der Furcht vor dem Fremden

Und aus dieser Perspektive bieten sich auf einmal ganz andere metaphysiche Kategorien als die der klassischen Metaphysik an. Doch auch hier dürfte es nicht immer ganz leicht fallen, Avanessian zu folgen, wenn er etwa der deduktiven Präemption eine abduktive Prähension gegenüberstellt. Zu skizzenhaft und unkonkret bleiben die Erklärungen oftmals. Und dennoch lässt sich hinter dem Begriffswald die Konzeption einer neuen Art des Denkens erkennen, als Alternative zum reflexiven Subjekt-Objekt-Denken (man könnte auch sagen: der instrumentellen Rationalität) der klassischen modernen Metaphysik. Ein spekulatives Denken, das die (präemptiv determinierte) Zukunft wieder öffnet, indem es neue Weltordnungen zulässt und schafft, anstatt nur alte Machtverhältnisse zu reproduzieren. Ein Denken aber auch, das sich auf das Finden und Erfinden von Alternativen konzentriert, statt im reflexiven Reigen der Kritik zu verharren. Denn: „Neues entsteht nicht im reflexiven Rückgang auf schon Vorliegendes oder Vorgedachtes, sondern nur durch weitere Verfremdung. Und die Spekulation lehrt uns, dass es ein Ende haben muss mit der Furcht vor dem Fremden“, auch und gerade im Politischen.

Metaphysik zur Zeit lässt sich somit zwar wohl nur als erfrischend unorthodoxe Einführung in die klassische Metaphysik lesen – nämlich qua Gegensatz –, sehr wohl aber als Einstieg in die Theorien des Spekulativen Realismus oder des Akzelerationismus, auf die Avanessian sich bezieht, – ein Stück weit aber auch als politisches Manifest. Das Buch ist damit zugleich eine Art Summe von Avanessians Arbeit der vergangenen Jahre geworden, was sich nicht zuletzt an der ungemeinen Gedankendichte auf engem Raum ablesen lässt. Aber man muss Avanessian keineswegs in allen Punkten bis ans Ende folgen oder auch nur all die sich bisweilen überschlagenden innovatorischen Begriffssalven genau verstehen, um aus seinem Buch eine äußerst anregende Perspektive auf die politisch-philosophischen Probleme der Gegenwart und Zukunft zu gewinnen.

Armen Avanessian, Metaphysik zur Zeit, Merve 2018, 136 Seiten, 12 €

3 Gedanken zu “Metaphysik aus der Zukunft

  1. „…Doch während es für eine klimafreundliche(re) Energiegewinnung technologische Lösungen gibt…“
    Erster Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass Energie nur umgewandelt werden kann, nicht gewonnen. (Anders als unsere erste Physikerin und Kanzlerin gerne behautet).

    Ihr Essay enthaelt einige gute Punkte, aber verliert sich in Laenge und unnoetigen komplexen Aussagen. Avanessian hat (wie Habermas) nichts neues zu sagen. Es erscheint heute nur so.

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    1. Ich vermute, Ihre Kritik bezieht sich eher auf den Begriff der Energie-„Erzeugung“. Denn „gewinnen“ kann man auch – oder gar nur – etwas, das vorher schon da ist, im Zuge der Gewinnung also auch umgewandelt werden kann.

      Die Länge des Textes ist sicher ein berechtigter Kritikpunkt. Demnächst wird an anderer Stelle auch eine gekürzte Fassung des Textes erscheinen. Ich wollte deshalb hier den Text in voller Länge zugänglich machen.

      Die Frage, warum etwas, das heute immerhin neu erscheint, von Ihnen schon als veraltet erkannt wird, müssen Sie bei Gelegenheit noch genauer beantworten. Und selbst wenn es „nur“ neu „erscheinen“ sollte, wäre das dann doch auch schon eine Berechtigung, darüber zu schreiben. (Abgesehen von der Frage, ob denn immer alles neu sein muss – oder überhaupt kann -, das gesagt oder geschrieben wird…)

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