Ist Angela Merkel Avantgarde?

angela-merkel-60603_1280Warum unsere Demokratie in Zukunft mehr Kommunikation wagen muss und was die Regierungsweise der Bundeskanzlerin damit zu tun hat

Kürzlich meldete SPIEGEL ONLINE, die Bundeskanzlerin greife auf Meinungsumfragen zurück, um Bürgerwünsche teilweise wortgleich in ihre Regierungserklärungen zu übernehmen. Das verwundert eigentlich nicht, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um dieselbe Angela Merkel handelt, die z.B. in Fragen der Familienpolitik oder der Atomenergie schon einmal lange gepflegte Positionen der von ihr geführten CDU aufgibt, wenn sie den Eindruck hat, dass die Mehrheit der Bevölkerung eine andere Ansicht vertritt. Ganz gleich, was man von der Kanzlerin und ihrer Regierungsweise halten mag – ihr vorzuwerfen, sie ignoriere die Wünsche der Bevölkerung, ist ein Vorwurf, der ins Leere zielt.

Ist Angela Merkel also eine Vorreiterin einer neuen Art von Politik, gar einer neuen Form der Demokratie? Das haben schon manche so gedeutet. Aber ist es wirklich wegweisend und gar noch besonders demokratisch, die eigene Politik von Meinungsumfragen abhängig zu machen?

Vielleicht aber ist man im Südwesten Deutschlands, im reichsten und in vielerlei Hinsicht fortschrittlichsten Bundesland Baden-Württemberg wirklich dabei, an der Zukunft der Demokratie zu bauen. Und der Titel dieses Bauprojekts lautet nicht etwa ‚Stuttgart 21‘ – das ist vielmehr die antidemokratische Katastrophe, die man mit dem Neuen vergessen machen und überwinden will – sondern ‚Politik des Gehörtwerdens‘. Und im Untertitel folgt dann noch der Appell: ‚Baden-Württemberg zum Musterland lebendiger Demokratie machen‘. Die grün-rote ‚Bürgerregierung‘ (so die Selbstbezeichnung) von Baden-Württemberg hat gerade gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung eine Studie vorgestellt, wonach es nicht nur im Südwesten Deutschlands, sondern überall dringend nötig ist, die Bevölkerung stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Die Bürgerinnen, so eines der wichtigsten Ergebnisse, wollen nämlich nicht nur bei den regelmäßigen Wahlen mitreden, sondern auch dazwischen, mittels Volksentscheiden und ‚deliberativer Demokratie‘.

Der ‚Faktencheck‘ als Zukunftsmodell der Demokratie von Morgen?

Das allerdings bedarf der Erläuterung: Was ist ‚deliberative Demokratie‘? Oberflächlich betrachtet ist es etwa das, was Heiner Geißler vor vier Jahren in Stuttgart versuchte, als er als ‚Schlichter‘ einen wochenlangen und vielstündigen ‚Faktencheck‘ über den Stuttgarter Bahnhof und dessen Zukunft leitete. Das lateinische deliberatio, wie der humanistisch gebildete Geißler gewiss auswendig übersetzen würde und alle anderen bei Wikipedia nachlesen können, bedeutet nämlich Beratschlagung. Eine deliberative Demokratie ist also eine politische Ordnung, in der man sich ausführlich beratschlagt, bevor man eine Entscheidung trifft. Und das Wort vom ‚Faktencheck‘ dient hier deshalb als recht gute Erläuterung, weil es mindestens die Hälfte dessen wiedergibt, was auch das wissenschaftliche, das theoretische Konzept einer deliberativen Demokratie will: Sachlich, rational und ohne jedes Vorurteil über Politik diskutieren. Was hier noch fehlt, ist die gewissermaßen machtpolitische Komponente deliberativer Demokratie, die Jürgen Habermas, dem wohl wichtigsten Vertreter dieser Idee, am Herzen liegt: Eine deliberative Demokratie soll ihm zufolge nicht nur vernünftige, sondern auch faire und gleichberechtigte Beratschlagungen ermöglichen. Herrschaftsfrei sollen die Gespräche sein, die in ihr zustande kommen.

An der Herrschaftsfreiheit haperte es allerdings etwas in Stuttgart. An den durchaus sachlich und fachlich fundierten Beratschlagungen im Rathaus nahmen auf der einen Seite die damalige CDU-geführte Landesregierung und der gigantische Staatskonzern Bahn teil, auf der anderen Seite die Vertreterinnen von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden (immerhin) und zumindest ein grüner Oberbürgermeister (Boris Palmer) einer wichtigen Universitätsstadt. Aber geleitet wurden diese Gespräche von einem CDU-Mitglied (Geißler). Dessen ‚Faktencheck‘ klang dennoch nach einer objektiven und fairen Bestandsaufnahme. Nach Aufklärung und Transparenz. Aber die Stuttgarter Soziologin und Philosophin Annette Ohme-Reinicke hat eine sehr einleuchtende Erklärung dafür, warum diese Fokussierung der Beratschlagungen auf einen ‚Faktencheck‘ das ohnehin schon unübersehbare Machtgefälle zwischen Projektbefürworterinnen und -gegnern noch verschärfen musste: Die ‚technische Rationalität‘ der Gespräche, sagt sie, nahm den Gegnerinnen des Bahnhofsneubaus viele wichtige und gewichtige Argumente aus der Hand.

Denn die Gründe der Stuttgarter, die gegen ‚S 21‘ waren und sind, seien weit vielfältiger: So etwa die Sympathie zum alten Bahnhof, sei es dessen Architektur, seien es Erinnerungen, die sich damit verbinden. Oder auch ein allgemeines Unbehagen mit einer auf wahnwitzige Großprojekte fixierten Politik, die sich den alltäglichen Sorgen und Problemen von Wählerinnen nicht mehr widmet. Weil die ‚Schlichtung‘ all diese Aspekte, bei denen es manchmal mehr um Bauchgefühle als um Sachfragen geht, weitgehend ausblendete, so die These, war sie von Anfang an dazu verdammt, eine exklusive Runde von Ingenieuren zu bilden, die sich über Zuglängen und Tunnelbreiten austauschen. Alles andere gehörte ja nicht zur Sache, hätte den ‚Faktencheck‘ nur gestört.

Zwar waren die Gespräche in Stuttgart weder ein perfektes Beispiel deliberativer Demokratie, noch eine professionelle Mediation oder gar moderierte Tarifverhandlungen (wie die Bezeichnung ‚Schlichtung‘ vermuten lassen könnte). Aber in ihrem durchaus nicht erfolglosen Bemühen, einen sachorientierten, nüchternen und rationalen Dialog über einen politischen Konflikt zu führen, machen sie auf einen erheblichen Mangel aufmerksam, der dann auftritt, wenn man versucht, reale Politik unter idealen Voraussetzungen zu diskutieren. Deliberative Demokratie in ihrer Reinform würde nämlich bedeuten: Jede(r) löst sich von ihren persönlichen Motiven und Wünschen, von seinen ganz eigenen Gründen, die ihn zu einer politischen Position führen. Man stellt die eigenen Ansichten bedingungslos zur Disposition, oder besser zur rationalen Durchleuchtung. Geprüft wird dann aus gänzlich allgemeiner Sicht, was das Beste für alle sei.

Man ahnt: Dabei werden Gefühle nur stören. Technische Maßstäbe (wie z.B. die Effizienz eines Fahrplans) sind da eher noch Größen, an denen sich ein solcher rationaler Diskurs orientieren kann. Kennerinnen der deliberativen Demokratietheorie mögen nun einwenden: Aber so ist es doch gar nicht gedacht! Und damit hätten sie vielleicht recht. Aber das heutige System einer repräsentativen Demokratie repräsentiert eben auch nicht alle Wünsche, Interessen und Meinungen so umfassend und gleichmäßig wie es das von seinem Namen und Anspruch her suggeriert. Gerade wegen dieser ärgerlichen Differenz zwischen Theorie und Praxis wird ja hier und vielerorts sonst über Alternativen oder Ergänzungen zu diesem System nachgedacht. In einer aktuellen, sehr lesenswerten Studie zur Eignung verschiedener Formen der Bürgerbeteiligung kann man zu der Frage, ob deliberative Demokratie denn eine solche Alternative bieten könnte, lesen: „Es wirkt so, als sei Deliberation in einem ähnlichen formalistischen Dilemma gefangen wie das repräsentative System. Eine formal legitimitätsträchtige institutionelle Konstruktion steht einer potenziell hoch problematischen Praxis gegenüber.“

Wem das zu kompliziert klingt, der lese ruhig noch einmal. Die Aussage ist eigentlich klar: Genauso wenig, wie es der repräsentativen Demokratie gelingt, jede Bürgerin und jeden Bürger tatsächlich zu repräsentieren, gelingt es der deliberativen Demokratie, ihren Anspruch einzulösen, gleichzeitig vernünftig und gleichberechtigt zu diskutieren, gleichermaßen der Sache angemessenen zu beratschlagen und dabei dennoch allen an einem Konflikt beteiligten Menschen gerecht zu werden. Beide Formen der Demokratie tendieren nämlich zur Exklusion, zum Ausschluss von Menschen und ihren Anliegen. In der repräsentativen Demokratie hängt das vor allem am Einfluss, an Macht und Aufmerksamkeit, die einer in die Waagschale werfen kann, will er gehört werden. In ihrer deliberativen Variante kommt es auf die Fähigkeit an, die eigenen Gefühle im Zaum zu halten und seine Interessen in möglichst kluge Gedanken und Worte zu kleiden. Das kann nicht jede/r.

Mehr Kommunikation wagen!

Und so scheint doch zumindest ein Quäntchen Weisheit darin zu liegen, wenn Angela Merkel auf ihre ganz eigene Weise zur Modernisierung der Demokratie schreitet: Immerhin sind Meinungsumfragen durchaus geeignet, auch Stimmungen und Gefühle zu transportieren, nicht nur emotionslose Einschätzungen zu Sachfragen. Und gar nicht mehr so unsympathisch wirkt da auch der vielfach geschmähte Horst Seehofer, der im letzten Europawahlkampf forderte, Europa müsse nun den Weg auch in die Herzen, nicht nur in die Köpfe der Menschen finden. Natürlich – und das haben wohl auch manche frühere CSU-Wählerinnen geahnt, die am 25. Mai 2014 zu Hause blieben oder jemand anderes wählten – ist das alles etwas komplizierter. Demokratiedefizite lassen sich nicht durch Einreisebeschränkungen und Maßnahmen gegen Sozialmissbrauch ausgleichen. Stattdessen muss man darüber nachdenken, woher eigentlich die Unzufriedenheit, das Gefühl, nicht in ausreichendem Maße gehört zu werden und mitreden zu können, stammt. Was ist das eigentlich für ein Problem, an dem unsere Demokratie, ob in Deutschland oder in Europa, laboriert?

Es ist vor allem ein Problem der Kommunikation. Und damit meine ich nicht die mangelnde Fähigkeit von Regierungspolitikerinnen und Behörden, schlechte Politik gut zu verkaufen. Gute Kommunikation in der Demokratie, das würde bedeuten, dass sich alle, die miteinander reden, gegenseitig ernst nehmen. Dass alle allen zuhören, ganz gleich welche Meinung und welche sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten sie haben. Dass Regierungen, Behörden und auch die großen und mächtigen Unternehmen möglichst dreimal nachfragen, ob sie verstanden worden sind. Und dass sie den Bürgerinnen einen Respekt entgegenbringen, der es selbstverständlich erscheinen lässt, dass sie zählen. Nicht nur als Wähler.

Dass Kommunikation in der Demokratie eine wichtige Rolle spielt, ist gewiss keine Neuigkeit. Der ernsthafte Versuch, sie zu verbessern und dabei von jeglichen Versuchen der unlauteren Einflussnahme und Manipulation abzusehen, wäre allerdings ein Wagnis, dem sich unser politisches System als Ganzes noch nicht gestellt hat. Vielleicht sind die Versuche der ‚Bürgerregierung‘ aus Baden-Württemberg und Angela Merkels Affinität zu Meinungsumfragen ja erste Anzeichen eines positiven Wandels. Allerdings sollte sich dann die Politik nicht ausgerechnet von Verhaltenspsychologen beraten lassen, die Menschen nach einem Reiz-Reflex-Schema beurteilen – wie das die Bundesregierung wohl neuerdings tut. Stattdessen könnte sie einmal die humanistische Psychologie konsultieren. Die Kommunikationstheorie nach Paul Watzlawick z. B. könnte hier weiterhelfen.

Die besagt nämlich, dass Kommunikation dann gelingt, wenn nicht nur Sachfragen erschöpfend erörtert werden, sondern Gespräche und Beziehungen von Akzeptanz und gegenseitiger Bestätigung – kurz: Respekt geprägt sind. Umgekehrt gilt: Nicht jedes Problem, das auf der Sachebene als solches erscheint, ist noch ein Problem, wenn Menschen versuchen, ihr Gegenüber nicht nur als Träger einer mit der ihren unvereinbaren Meinung, sondern als Person mit für sich gerechtfertigten Wünschen und Anliegen zu sehen. Dass allerdings solche Methoden einer respekt- und akzeptanzbasierten Kommunikation viele Probleme lösen können, dafür sind vielleicht gar nicht die vielen unterschiedlichen Theorien dieser Art das beste Argument. Sondern eher die erfolgreiche Arbeit von Therapeutinnen, Unternehmensberatern, Pädagogen, Mediatorinnen und Sozialarbeitern in ihren unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Warum sollte sich die Politik solche Erfolge nicht zu Nutze machen?

Die Demokratie der Zukunft, das steht außer Frage, muss ohnehin mehr Kommunikation wagen. Denn Menschen, die in Demokratien leben, werden ständig klüger, selbstbewusster und anspruchsvoller. Sie erkennen immer schneller und umfassender die Defizite politischen Handelns, das von Perfektion immer weit entfernt bleiben muss. Damit einerseits Bürger nicht mehr für dumm verkauft werden und andererseits Politikerinnen deren Versuche des Mitredens nicht mehr als lästiges Hineinreden abtun, braucht es neue Formen gleichberechtigter Kommunikation. Einer Kommunikation, die sowohl die akribische Kritik technischer Details eines Großprojekts als gültige Äußerungen zulässt, als auch das ‚Bauchgefühl‘ allgemeinen Unbehagens. Eine Demokratie, der es gelänge, solche Formen der Kommunikation zu institutionalisieren und in den politischen Prozess der Entscheidungsfindung einzubinden, wäre eine ehrliche, offene, konfliktbereite und durch und durch menschliche Bürgerdemokratie. Eine Utopie? Eine Vision – die zu verwirklichen nicht einfach, aber gewiss nicht unmöglich ist.

5 Gedanken zu “Ist Angela Merkel Avantgarde?

  1. Wow, das Dilemma der deliberativen wie der repräsentativen Demokratie ist schonungslos auf den Punkt gebracht! Vielleicht zu schonungslos? Denn abgesehen von der visionären Wendung am Ende, müsste doch in der deliberativen Demokratie theoretisch, aber auch praktisch Platz für Gefühle sein. Das hinge dann nur von der angemessenen Durchführung ab. Oder ist die deliberative ‚Beratschlagung‘ per se zu rationalistisch gefasst?

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    1. Ich würde in der Tat sagen, dass die deliberative Demokratietheorie ein dezidiert rationalistischer Entwurf ist. Habermas hat in Bezug auf seine Diskursethik – auf der die deliberative Demokratietheorie jedenfalls in ihrer deutschen Ausprägung fußt – auch mehrfach zugegeben, dass der rationale Diskurs an vielen Lebenssituationen scheitern muss. Erfolgsvoraussetzung ist nämlich, wie er sagt, die Entwicklung „abstrakter Ich-Identitäten“, also Fähigkeit und Bereitschaft zur Loslösung von allen konkreten Beweggründen, bevor man in einen Diskurs / eine Deliberation eintritt.
      Dass natürlich praktisch angewandte Ansätze von Deliberation – die ohnehin niemals die ‚idealen Sprechbedingungen‘ nach Habermas einhalten werden können – sich öffnen könnten für andere Formen der Kommunikation, die dann auch Gefühle, Intuitionen zuließen, steht auf einem anderen Blatt bzw. in meinem wissenschaftlichen Papier, dass gerade auf denkzentrum-demokratie.de erschienen ist:
      http://www.denkzentrum-demokratie.de/denkzentrum%7Cdemokratie:_aktuell.html#widget3

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  2. […] Soeben hat das Bundesverwaltungsgericht für einen Führerscheinentzug bei Cannabis-Gelegenheitskonsum den Grenzwert von 1 Nanogramm bestätigt, und das entgegen der Sicht eines Gutachters, der erst ab einer Konzentration zwischen 2 und 5 Nanogramm eine Fahruntüchtigkeit für feststellbar erklärte. Der Wert von 1 Nanogramm ist lediglich eine mechanische Festlegung. In dieser Hinsicht ist ausnahmsweise einmal Bayern verwaltungsrechtliche Avantgarde. […]

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