„Gefühle sind ebenso komplex wie Politik“

Im Februar 2017 hat der Thinktank d|part eine Studie zu Ängsten in Bezug auf die EU vorgestellt. Daraus geht hervor, dass viele Bürger*innen recht konkrete Sorgen und Befürchtungen in Bezug auf die EU-Politik hegen, während befragte Abgeordnete und politische Analysten eher latente Angst und allgemeine, unbegründete Befürchtungen in der Bevölkerung wahrzunehmen glauben. Über diesen Widerspruch haben wir mit Dr. Jan Eichhorn, Co-Autor der Studie und wissenschaftlicher Leiter bei d|part, gesprochen.

Dr. Jan Eichhorn ist Research Director beim Thinktank d|part und beschäftigt sich mit Fragen politischer Partizipation, vor allem auch junger Leute. Er arbeitet außerdem als Lecturer in Social Policy an der University of Edinburgh und führt vergleichende Studien zwischen Großbritannien, Deutschland und anderen europäischen Ländern durch. Die gewonnen Ergebnisse nutzt er, um Akzente in der öffentlichen und politischen Debatte zu setzen.

Augenblicklich wird viel über Gefühle gesprochen, die in der politischen Debatte und in Wahlen oft den nüchternen Blick auf politische Probleme zu verdrängen scheinen. Was könnt ihr auf der Grundlage euer Studie dazu sagen?

Wenn wir uns über Themen wie Ängste unterhalten, reden wir natürlich über Gefühle. Dazu lassen sich auf der Grundlage unserer Forschung zwei wichtige Aspekte nennen. Zum einen gibt es nicht einfach nur eine latente Angst bei den Menschen. Oft wird es zwar so dargestellt, gerade wenn es um Politik geht, dass Menschen ganz allgemein entweder ängstlich oder positiv gestimmt seien. Wenn wir den Zusammenhang aber näher betrachten und nach Themenbereichen aufgliedern, wenn wir fragen: Wovor haben Leute Angst – etwa vor dem Verlust von Arbeitsplätzen oder von nationaler Identität – dann sehen wir, dass es nur wenige Menschen gibt, die in allen Bereichen Angst haben.
Was man verstehen muss, ist, dass Emotionalität auch komplex ist, genau so wie politische Fragen komplex sind, und dass man somit Menschen nicht einfach in Schubladen stecken kann, sondern sich wirklich intensiv mit der Frage auseinandersetzen muss.

Wo ist, in Bezug auf die Ergebnisse eurer Studie, der Unterschied zwischen einer unbestimmten, allgemeinen Angst, die ja viele Politiker und Beobachter diagnostizieren, und ganz konkreten Sorgen in der Bevölkerung?

Wir sehen, wenn wir die Ergebnisse zum Beispiel nach Parteianhängerschaft ordnen, dass bei AfD-Anhängern tatsächlich Ängste in allen Bereichen in Bezug auf die EU bestehen. Für eine Minderheit in der Bevölkerung ist die Diagnose einer allgemeinen, unbestimmten Angst also zutreffend. Wenn wir allerdings beispielsweise Anhänger der Linkspartei betrachten, sehen wir, dass es große Ängste in Bezug auf den Verlust von Arbeitsplätzen oder der sozialen Sicherung gibt, aber wenig Angst besteht, ob Deutschland seinen Einfluss in der Welt einbüßen könnte. Schauen wir auf Anhänger der SPD oder der CDU, bewegen sich die Werte im Mittelfeld. Aber auch hier sehen wir Unterschiede, etwa bezüglich der Angst vor einem möglichen Verlust nationaler Identität, die bei den Unionsanhängern stärker ausgeprägt ist.
Was wir also sagen können, ist, dass es Menschen gibt, die tatsächlich allgemeine und eher unbestimmte Sorgen und Ängste haben. Bei den meisten Menschen beschränken sich die Ängste aber auf solche Themenbereiche, zu denen sie einen direkten Bezug haben.

Die meisten Menschen haben sehr pragmatisch geantwortet.

Sind es eigentlich eher politisch extrem eingestellte Menschen, die Sorgen haben, oder ist das ein Phänomen, das sich durch alle Bevölkerungsschichten und alle politischen Lager zieht?

Wir finden Sorgen tatsächlich in allen Bereichen der Bevölkerung, aber hierbei handelt es sich eben um Sorgen zu konkreten Themenfeldern, Sorgen, die die Menschen direkt betreffen. Die Menschen, die am wenigsten Sorgen haben, sind die, die objektiv am besten gestellt sind. Wir sehen also starke demographische Unterschied: Menschen in sozial abgesicherten Schichten haben grundsätzlich weniger Sorgen. Das zeigt wiederum die Multidimensionalität dieses Themenfeldes: Das eine ist die ‚objektive‘ Situation von Personen. Menschen die in eher prekären Verhältnissen leben, haben auch größere Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Dann gibt es Menschen, die vielleicht eher bürgerlich-konservativ eingestellt sind und sich eher Sorgen um den Verlust ihrer nationalen Identität machen, gänzlich unabhängig davon, wie ihre wirtschaftliche Lage ist. Sorgen und Ängste beziehen sich also auf deutlich verschiedene politische Themenfelder.

Mein Eindruck ist: Die von dir beschriebenen Sorgen und Ängste sind nicht durchweg ‚unvernünftig‘. Offenbar differenzieren die Menschen hier ja auch abhängig von für sie wichtigen Themen und Interessenfeldern. Kann man im Umkehrschluss so weit gehen wie manche ‚Populisten‘ und sagen: Die Bevölkerung ist eigentlich vernünftig, über ihren Geisteszustand sollten sich im Zweifel diejenigen Angehörigen von Eliten Sorgen machen, die begründete Ängste nicht ernst nehmen?

Immerhin 68% der Befragten haben Ängste in Bezug auf die EU – aber nur wenige sind generell besorgt („strongly concerned in all areas“). Ergebnisse aus der englischsprachigen Studie „Mind the gap: understanding public opinion and elite interpretations of EU concerns in Germany“ – Grafik: d|part

Es gibt tatsächlich Dissonanzen in der Wahrnehmung. Und viele Angehörige der Eliten machen es sich zu einfach. Wir stellen in unserer Forschung fest, dass manche die beschriebenen Sorgen als ein allgemeines, latentes Gefühl abtun, das lediglich auf Verständnisproblemen basiert. Tatsächlich haben aber die meisten Menschen auf unsere Fragestellung sehr pragmatisch reagiert: Menschen die denken, dass die wirtschaftliche Lage sich verschlechtern wird, haben größere Ängste. Das ist ja ein sehr gut nachvollziehbarer Zusammenhang.
Andererseits stimmt es aber auch, dass viele Menschen etwa die wirtschaftliche Lage nur in einem begrenzten Maße objektiv einschätzen können. Da muss man durchaus kritisch die Frage stellen: Was weiß die Bevölkerung, woraus zieht sie ihre Schlüsse? Wichtig ist aber: Sobald man eine der beiden Gruppen – Bürger*innen oder Eliten – als homogene Masse abtut, schafft man natürlich viel eher Abneigung und Dissonanz, als wenn man sich um gegenseitiges Verständnis und Verständigung bemüht.
Und das ist, glaube ich, wirlich die schwierigste Frage: Wie erzeugt man, sowohl bei der Bevölkerung, als auch bei den Eliten das Verständnis dafür, dass es die Bevölkerung oder die Elite als homogene Gruppe gar nicht gibt?

Wissenschaftler müssen ihre Forschungsergebnisse auch kommunizieren.

Was wären denn ein guter Ratschlag an diejenigen Angehörigen politischer Eliten, die vielgestaltige Sorgen und Ängste in der Bevölkerung tatsächlich pauschal und undifferenziert betrachten?

Ganz wichtig ist – das sagt sich natürlich als Sozialwissenschaftler sehr leicht – die Auseinandersetzung mit wirklichen Forschungsergebnissen und nicht nur den Eigenwahrnehmungen. Denn selbst Gespräche im Wahlkreis führen Abgeordnete ja in der Regel nur mit denjenigen, die tatsächlich zu ihnen kommen. Das ist eine eher eingeschränkte Gruppe. Jedoch liegt die Verantwortung, sich selbst stäker zu hinterfragen nicht nur bei den politischen Eliten. Sondern sie liegt auch bei denjenigen, die solche Forschungsergebnisse erzeugen: Auch Wissenschaftler müssen viel stärker darüber nachdenken, welche Verantwortung sie haben, ihre Ergebnisse auch zu kommunizieren.
Denn selbstverständlich muss ein Politiker mit einem dichten Terminplan erst einmal in die Möglichkeit versetzt werden, von neuen Erkenntnissen zu erfahren. Und ich glaube, dass sich augenblicklich viele Wissenschaftler zu schnell damit zufrieden geben, denjenigen ihre Ergebnisse zu präsentieren, die ihnen ohnehin schon zuhören. Die Publikation spannender Forschungsergebnisse allein reicht eben noch nicht, um tatsächlich Veränderungen zu bewirken. Da ist vielmehr der Forscher aktiv gefragt, an einem solchen Prozess mitzuarbeiten.

Das wäre also eine Vermittlungsaufgabe der Wissenschaft. Ich springe aber nochmals auf eine etwas allgemeinere Ebene: In Eurer Studie erwähnt ihr den Politologen Fritz Scharpf, der in Bezug auf die EU zwischen Output-Legitimation und Input-Legitimation unterscheidet, der also die Frage stellt, ob es für die Anerkennung und Rechtfertigung der EU wirklich ausreicht, wenn sie ihren Bürgerinnen im Ergebnis gute Politik (den Output) liefert – oder ob es nicht ebenso wichtig ist, den Entscheidungsprozess der zur praktischen Politik führt, so zu gestalten, dass Menschen sich tatsächlich repräsentiert fühlen (das wäre die Inputseite). Was müsste sich an der EU ändern, damit das stärker als bisher der Fall ist?

Verzerrte Wahrnehmung bei Angehörigen der politischen Elite?
Zitate aus Interviews mit Abgeordneten, die im Rahmen der Studie geführt wurden.
Quelle: d|part

Das Entscheidende ist wahrscheinlich, dass ein solcher Veränderungsprozess selbst unter Einbindung von Bürger*innen stattfinden müsste. Eines der großen Probleme, wenn wir beispielsweise an den Verfassungskonvent zu Beginn des letzten Jahrzehnts denken, war, dass es sich hier um einen unglaublich elitären Prozess gehandelt hat. Natürlich gab es auch organisierte Vertreter der Bürgerschaft, die an diesem Prozess teilgenommen haben. Aber das Verfahren wurde letzten Endes in keiner Weise als bottom-up wahrgenommen, also als ein Vorgang, an dem die Bevölkerung tatsächlich mitwirken konnte.
Es geht in diesem Zusammenhang aber nicht nur um institutionelle Veränderungen – das ist ganz wichtig. Man kann in der EU neue Beteiligungsmöglichkeiten schaffen, das ist ein relevanter Punkt. Aber die Frage, wie man diese Prozesse einrichtet und gestaltet, und was sich die Bürger*innen davon erwarten ist fast die spannendste Frage dabei. Wenn man sich nun einfach ein oder zwei neue Beteiligungsinstrumente ausdenkt und die kurzfristig implementiert, ist das sicher nicht irrelevant – aber ob sie in der Kürze die Wahrnehmung von vielen Millionen Menschen verändern? Ich glaube daher, dass der Prozess einer solchen Veränderung selbst enorm wichtig ist.

Neue Möglichkeiten der Beteiligung sind wichtig. Aber hier kommt es vor allem auf das Wie an.

Wenn man nun die Konsequenz aus Euren Studienergebnissen zieht, dann scheint mir das in folgende Richtung zu gehen: Man könnte das zunächst subtil und undurchsichtig wirkende Phänomen ‚Angst vor der EU‘ eigentlich herunterbrechen auf relativ simple, politische Sachfragen. Und für diese Sachfragen auch konkrete politische Antworten finden. Das liefe also auf eine Versachlichung des Themenbereichs Angst und Sorgen hinaus.
Kann und sollte man aber auf einen emotionalen Zugang zur Politik vollständig verzichten, gerade in Bezug auf Europa? Ich selbst stelle zum Beispiel an mir fest, dass ich als durchaus politisch interessierter Mensch nur unzureichend über europäische Politik informiert bin. Da ist es dann auch für mich eine Erleichterung, eine Politikerin oder einen Politiker wählen zu können, der oder dem ich auf Grund meines Gesamteindrucks, ja vielleicht nur wegen eines Bauchgefühls einfach vertrauen kann. Ist das nicht ein Aspekt, den man berücksichtigen sollte?

Ja, absolut. Einerseits stimmt es zwar, dass sich einige der Ängste und Sorgen in Bezug auf die EU gewissermaßen auf objektive Politikfelder und Sachzusammenhänge beziehen, die man konkret angehen könnte. Andererseits ist es nicht so, dass diese Dinge perfekt miteinander korelieren. Es kommt ja nicht nur auf objektive Zustände an, sondern auch darauf, wie sich die Wahrnehmung verändert, das ist sogar ganz entscheidend. Wir müssen also fragen: Wie wird die Realität in die persönliche Wahrnehmung übersetzt, die ja immer auch stark emotional geprägt ist

Die Ängste der Menschen sind vielfältig und lassen sich schwer über einen Kamm scheren. Aber wie erfahren Politiker eigentlich davon? – Grafik: d|part

Der zweite wichtige Punkt ist: Menschen treffen politische Entscheidungen, Wahlentscheidungen aus sehr verschiedenen Gründen. In einer repräsentativen Demokratie ist das auch absolut legitim. Dass Menschen Politiker wählen, weil sie ihnen sympathisch sind, wird manchmal als uninformiert oder unsachlich abgetan. Das ist aber problematisch. Denn in der repräsentativen Demokratie gebe ich jemandem ein Mandat für vier oder fünf Jahre. Da kann ich meine Wahlentscheidung zwar auf Sachpositionen des Kandidaten in unterschiedlichen Politikfeldern gründen, was teilweise auch so geschieht. Aber gleichzeitig ist es nicht illegitim, meine Wahlentscheidung etwa auf persönliches Vertrauen zu gründen, da die gewählte Person ja auf noch unvorhersehbare Ereignisse reagieren müssen wird. Dass Wähler also ihre Entscheidung auch nach persönlichen Eigenschaften richten  und dabei auf einen subjektiven Faktor wie Vertrauen setzen – das ist absolut legitim, würde ich sagen.

So zu tun, als ob in der Politik emotionale Sichtweisen keine Rolle spielen würden, ist Unsinn.

Deine Empfehlung wäre also nicht, Emotionen durch Analyse von Meinungen und Einstellungen gewissermaßen wieder aus dem politischen Prozess auszugliedern, sondern im Gegenteil einen klugen Umgang mit Emotionen im politischen Prozess anzustreben?

Absolut, ja. So zu tun, als ob in der Politik subjektive, emotionale Sichtweisen keine Rolle spielen würden, ist Unsinn. Die Einschätzung einer Person, eines politischen Repräsentanten kann, ja muss subjektiv sein. Was wichtig ist, ist, dass wir deutlicher darüber sprechen, wie Emotionen und andere Gesichtspunkte im Kontext von Politik zusammenwirken.

Vielen Dank für das Gespräch und die spannenden Auskünfte!

Das Interview führte Andreas Schiel.

Die Studie „Mind the gap: understanding public opinion and elite interpretations of EU concerns in Germany“ (in englischer Sprache) steht auf der Website von d|part zum Download bereit.

Die Studie und alle daraus entnommenen Abbildungen wurden von d|part erstellt und unterliegen der Lizenz Creative Commons 4.0.

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